Antelao

Im Bücherregal meines Vaters steht ein altes Buch von Luis Trenker mit einem Bild des Antelao darin. Es zeigt den als »Dolomitenkönig« bezeichneten Berg, in Neuschnee gehüllt, über den herbstlichen Lärchenwäldern des Cadore. Es ist eines dieser Bilder, die einem bergbegeisterten Jungen nicht eher aus dem Kopf gehen, bis er oben war. Bis dahin dauerte es zwar noch lange, aber schließlich ging der Traum in Erfüllung.

Hinweis und Aktualisierung:
Im Vergleich zu meiner folgenden Tourenbeschreibung haben sich die Verhältnisse am Gipfelanstieg, bedingt durch einen Felssturz auf den Laste im Frühjahr 2015, verändert und die Schwierigkeiten offenbar erhöht. Das Bivacco Cosi exisitert nicht mehr, und die Felsmassen sind weiterhin instabil, eine Besteigung ist somit riskanter geworden. Die Bedingungen sollten unbedingt vor Ort erfragt werden.

Dolomitenkönig Antelao

Egal was über den Normalweg zum Antelao zu lesen ist – die Autorenschaft greift zu pathetischen Worten, um den Normalweg über die Plattenfluchten der »Laste« zu beschreiben. Mit einer Neigung von etwa 35° führen diese autobahnbreiten Felsbänder hinauf bis an den Gipfelaufbau. Auf den letzten Höhenmetern folgen dann einige leichte Kletterstellen im II. Schwierigkeitsgrad.


Herbst im Cadore – Blick zum Dolomitenkönig Antelao (3263 m)

Obwohl der Antelao der zweithöchste Dolomitenberg ist, gehört er zu den seltener besuchten Gipfelzielen, und die großzügige Runde um den Berg herum, ein landschaftlich großartiger Weg mit fantastischen Naturerlebnissen, ist ein echter Geheimtipp geblieben. Die Besteigung und Umrundung des Dolomitenkönigs ist eine schöne Sache für Bergsteiger, die gern ihre Erlebnisse auskosten und die eine gute Choreographie auf ihren Unternehmungen schätzen.

König Antelao, du bist ein würdiger Herrscher!

Bei der Anfahrt nach Cortina d’Ampezzo zeigt der Antelao sein charakteristisches Profil mit seiner kleinen »Krone« oben drauf, aber bei der weiteren Annäherung, auf dem Weg von San Vito di Cadore ins Tal des Rio Secco, löst sich seine Nordwestfassade in ein abweisendes Gelände von Schluchten, Felstürmen und Wänden auf. Der Weg führt vorbei am Albergo Scoter zum Rifugio San Marco, einem guten Stützpunkt für die Gipfeltour, in aussichtsreicher Lage auf dem Südhang des Sorapismassivs gelegen. Wer den Weg zur Hütte hinauf im Frühsommer geht, kann unterwegs reiche Vorkommen des Frauenschuhs Cypripedium calceolus in den Kiefernwäldern und Latschen finden, im Hochsommer erkennt nur noch der Kundige die Samenstände der prächtigen Orchidee.


Frauenschuh, Cypripedium calceolus

Le Laste – »Autobahn« zum Gipfel

Nachts geht ein gewaltiges Gewitter herunter, laut prasselt der Regen auf das blecherne Hüttendach und setzt ein großes Fragezeichen hinter die Gipfeltour. Doch der Morgen ist blau und klar. Im Tal sammelt sich der nachts gefallene Niederschlag bereits in kleinen Wolkenfetzen, die zusehends in die Höhe wachsen, dennoch wollen wir den Gipfelsturm wagen. Von der Forcella Piccola führt der Pfad über Wiesengelände und Schuttkare an eine abweisende Felsflanke heran, die auf schmalen Felsbändern und Schrofen erstaunlich einfach ersteigbar ist. Der Ausstieg der Barriere geleitet auf die ersten Platten, die dann rasch zum Beginn der »Laste« führen.

Mal an der linken, mal an der rechten Felskante führt der Anstieg über die Rampe hinauf in die dichter werdenden Wolken. Bei trockenen, schneefreien Verhältnissen ist die Passage problemlos, aber bei Schnee und Eis sähe das schon ganz anders aus, dann wären Steigeisen und Pickel unverzichtbar.


Stetig und steil geht es auf den »Laste« bergauf

Hinter der Biwakschachtel Piero Cosi folgen noch einmal gut hundert Höhenmeter hinauf auf das markante Gipfelköpfchen des Antelao. Doch nun zeigt uns der König erst einmal die Zähne: Blankeis macht die Schlüsselstelle, einen drahtseilgesicherten Kamin, unpassierbar.

Antelao, mürrische Majestät, du hast es wohl nicht gern, dass wir dir auf die Krone steigen!

Nach kurzer Suche finden wir rechts einen äußerst exponierten kleinen Felsbalkon, der in die gähnenden Abgründe der Westflanke hinauskragt und dann über Schrofengelände den Zugang zur eigentlichen Route ermöglicht.

Am Gipfel ist von der vielgerühmten Aussicht bis an die Adria nichts zu sehen; der Blick verliert sich hinter dem Kopf des Tourenpartners im Nebel. Auf diesem Kopf zeichnet sich nun ein beunruhigendes Bild ab: die Haare stehen zu Berge. Wir sitzen also auf dem höchsten Punkt weit und breit in einer Gewitterwolke. Also nichts wie runter, wieder über den luftigen Balkon, der abwärts noch etwas unangenehmer ist, und dann im Laufschritt die Laste hinunter, noch immer mit dem seltsamen Knistern in den Haaren. Drüben am Pelmo kracht es schon, erst unten in der Felsbarriere fühlen wir uns sicherer. Just an der Türschwelle der Galassi-Hütte zucken die Blitze um uns herum, und der Himmel öffnet seine Schleusen.

Antelao, du grimmiger König, hast uns nochmal davonkommen lassen.


Abstieg im aufziehenden Gewitter

Große Umrundung

Am Morgen ist der Himmel wieder blau und friedlich, diesmal hält das Wetter den ganzen Tag. Über den Dolomiten-Höhenweg Nr. 5 führt die nächste Etappe hinüber zum Rifugio Antelao oberhalb von Pieve di Cadore. Eine einsame Tour, auf der wir keinem anderen Wanderer begegnet sind. Für Blumenfreunde wird es gleich hinter der Hütte interessant: in den Bergmatten oberhalb der Hütte steht das seltene Pyrenäen-Drachenmaul Horminium pyrenaicum, die Alpen-Grasnelke Armeria alpina und auch einige Orchideen wie Grüne Hohlzunge Dactylorhiza viridis und Weißzüngel Pseudorchis albida. Im Geröll blüht der leuchtend gelbe Kerners Alpenmohn Papaver kerneri und daneben das rosarote, unscheinbare Rundblättrige Täschelkraut Thlaspi rotundifolium.

An den Resten des unteren Antelao-Gletschers vorbei schlängelt sich der Pfad zum Beginn des Klettersteiges, der über eine 150 Meter hohe Plattenflucht hinauf zur Forcella del Ghiacciaio führt.


Blick von der Forcella del Ghiacciaio zum Antelao

Die Forcella ist ein eindrucksvoller Aussichtsplatz mit großartigen Blicken auf den nahen Antelao-Gipfel, hinüber zu den Tofane und in die Wildnis der Marmarole und der südlichen Karnischen Alpen. Jenseits der Scharte folgt ein einsamer Abstieg am oberen Antelao-Gletscher vorbei ins Valle Antelao und drüben wieder hinauf zur Forcella Mandrin. Edelweiß Leontopodium alpinum, Alpen-Zwergorchidee Chamorchis alpina und sogar die extrem seltene Einseles Akelei Aquilegia einseleana stehen am Wegrand.

Auf der Scharte ändert sich das Landschaftsbild, ein heiterer, sanfter Prospekt tut sich auf: die Heimat des Tizian im Licht des Südens, die grünen, waldreichen Täler des Cadore mit den Seen in der Tiefe. Dahinter türmen sich die zackenreichen Bergkämme des Bosconero und der südlichen Karnischen Alpen auf. Die Antelao-Hütte ist schon nah. Auf der Terrasse serviert uns die Hüttenwirtin eine würzige, mit Käse überbackene Polenta und dazu ein Glas Rotwein: genau das richtige nach einem langen Tourentag. Wir blinzeln in den Sonnenuntergang.

Antelao, du kannst also auch ein Sonnenkönig sein!


Sonnenaufgang über den südlichen Karnischen Alpen

Auf der Karte sieht die nächste Etappe um den Antelao herum, über die Forcella Piria und die Forcella Cadin nach San Vito, gar nicht so weit aus. Doch das stetige Auf und Ab über Pässe, durch tief eingeschnittene Kerbtäler, über dicht bewaldete Bergrücken und durch geröllreiche Bachläufe macht dieses Tagespensum zu einer langwierigen und sehr anstrengenden Sache. Doch wer ein offenes Auge für die südalpine Pflanzenwelt hat, dem wird dieses Stück Dolomiten in guter Erinnerung bleiben.

Zunächst führt der Weg wieder durch die hochalpine Vegetation mit Kohlröschen und Edelweiss, dann hinab in die Berghänge, wo südalpine Pflanzen wie Feder-Flockenblume Centaurea nervosa, Montpellier-Nelke Dianthus monspessulanus, Klebriger Lein Linum viscosum und Gelber Salbei Salvia glutinosa wachsen. Im Kiefernwald sind Netz-Sommerwurz Orobanche reticulata, Alpenveilchen Cyclamen purpurascens und Kriechendes Netzblatt Goodyera repens zu finden.


Alpenveilchen, Cyclamen purpurascens

Im letzten Anstieg zum Bosco Nuovo, am Westfuß des Antelao, hat eine frische, große Mure den Weg weggerissen. Doch es hilft nichts: wir müssen da durch. Nach der Querung der sandigen Steilhänge folgt noch ein Gleichgewichtstraining durch die Latschen, bevor wir wieder auf den Weg stoßen. Der Kampf gegen die Legion borstiger Gummiarme hat uns die letzten Kräfte geraubt, und so schwanken wir benommen hinab nach San Vito.

Antelao, du launischer König, du hast uns ganz schön fertig gemacht, aber du hast uns auch unvergesslich schöne Erlebnisse beschert. Wir werden uns gern an dich erinnern.

Informationen

Der Antelao stellt aufgrund seiner prägnanten Gestalt und seiner weit gegen Süden vorgeschobenen Lage eines der interessantesten Tourenziele für Dolomiten-Fans dar. Die vier Tourentage der hier geschilderten Umrundung mit Gipfelbesteigung bieten sehr kontrastreiche Landschaftseindrücke, aussichtsreiche Höhenwege, einen Klettersteig, und natürlich einen unvergleichlichen Gipfelanstieg. Diese großartige Tour fordert jedoch ein ordentliches Maß an Kondition und Bergerfahrung.


Am Rifugio Antelao, Blick zum Antelao

Anreise
Der Talort San Vito di Cadore liegt in den südöstlichen Dolomiten. Über die Brenner- oder die Felbertauernstrecke gelangt man nach Toblach und von hier südwärts über Schluderbach nach Cortina d’Ampezzo. Die restliche kurze Fahrtstrecke bis nach San Vito weist der Antelao höchstpersönlich.

Gehzeiten und Höhendifferenzen
1. Tag, von San Vito zum Rifugio San Marco etwa 2 Stunden, 800 Höhenmeter Aufstieg.
2. Tag, vom Rifugio San Marco auf den Gipfel etwa 4,5 Stunden und 1300 Höhenmeter Aufstieg, vom Gipfel zum Rifugio Galassi etwa 2,5 Stunden und 1150 Höhenmeter Abstieg.
3. Tag, vom Rifugio Galassi über die Forcella del Ghiacciaio zum Rifugio Antelao etwa 5,5 Stunden, 800 Höhenmeter Aufstieg und 1000 Höhenmeter Abstieg.
4. Tag, vom Rifugio Antelao um die Südwestflanke des Antelao herum nach San Vito etwa 8 Stunden, 650 Höhenmeter Aufstieg und 1400 Höhenmeter Abstieg.

Schwierigkeit
PD+. Der Gipfelanstieg ist bei guten Bedingungen wenig wenig schwierig, mit langen Strecken im I. Grad und kurzen, aber exponierten Kletterstellen im II. Grad.


an der Forcella Piccola beginnt der Normalweg zum Antelao

Route
Am ersten Tag Aufstieg von San Vito di Cadore auf einer Schotterstraße zum Rifugio Scotter und weiter auf bequemem Weg zum aussichtsreichen Rifugio S. Marco.
Tags darauf dann durch Latschen- und Schuttkare bequem zur Forcella Piccola. Von der Forcella aus führt der Gipfelanstieg auf dem Normalweg zum Antelao, zunächst über Wiesengelände und Felsschutt hinauf ins Nordkar, dann rechts zum Einstieg in die Felsbarriere. Diese wird, den Steinmännchen folgend, über Bänder und Schrofen recht ausgesetzt, aber unschwierig durchstiegen. Anschließend beginnt der Aufstieg über die gewaltige Nordabdachung. Bei P. 2804 beginnen dann die eigentlichen „Laste“. Auf den Felsbändern steil hinauf zum Fuß des Gipfelturmes. Von hier führen die Markierungen und Steinmännchen über einige Bänder und Aufschwünge zu einem Kamin, der mit einem Drahtseil gesichert ist und auf den Vorgipfel leitet. Von hier sind es nur noch wenige Meter in leichter Kletterei bis zum Hauptgipfel. Zurück auf dem Anstiegsweg bis zur Forcella Piccola und rechts hinab zum Rifugio Galassi.
Am dritten Tag folgt die Route dem Dolomiten-Höhenweg Nr. 4. Zunächst vom Rifugio Galassi über Grasbändern zum Fuß des unteren Antelao-Gletschers und an ihm entlang zum Einstieg des Forcella-del-Ghiacciaio-Klettersteiges, der über eine 150 m hohe Plattenflanke hinaufführt. Von der Forcella am Rand des oberen Antelao-Gletschers hinab und über ausgewaschene Felsstufen in die Südflanke der Cima Cadin. Durch Latschenfelder hinab zum Piano dell’Antelao und um die Crode S. Pietro herum in die Forcella Mandrin. Von hier ist das Rifugio Antelao bereits sichtbar, ein bequemer und aussichtsreicher Weg führt hinab.
Am vierten Tag zunächst ein Stück des Weges zurück, aber dann geradeaus und hinauf in die Forcella Piri. Links weiter zum Hochplateau an der Forcella Cadin, von hier führt ein steiles Serpentinenpfädchen hinab zum Col Gloria. Von da an geht der Pfad rechts weiter und in stetem Auf und Ab durch die Laub- und Kiefernwälder an der Antelao-Südseite. Immer wieder sind Geröllbäche zu überqueren, der Pfad ist stellenweise nicht deutlich auszumachen. Oberhalb von Borca di Cadore steigt der Weg einmal zum Bosco Nuovo an und durchquert eine große Geröll- und Murenrinne. Schließlich über die Schuttmassen eines Bergsturzes, der 1814 die S.-Vito-Fraktionen Taulén und Marcena verschüttete, hinab nach San Vito di Cadore, zuletzt durch Kiefernwälder.

Anforderungen
Für die Tour ist gute Kondition, Bergerfahrung und Schwindelfreiheit nötig, aufgrund instabiler Felsen nach dem Bergsturz 2015 sollten die Verhältnisse vor Ort erfragt werden. Bei Schnee oder Eis sind an der steilen Plattenflanke Pickel und Steigeisen unbedingt erforderlich.

Beste Jahreszeit
Juli – September

Übernachtung
Rifugio San Marco (1823 m), CAI-Sektion Venedig. Gemütliche, familiäre Hütte oberhalb von San Vito di Cadore am Südfuß der Sorapis-Gruppe. Ausgangspunkt für das Sorapis-Gebiet und für den Antelao. Bewirtschaftet von Ende Juni bis Mitte September. 45 Lager, Winterraum. Tel. +39 0436 9444
Rifugio Pietro Galassi (2018 m), CAI-Sektion Mestre. Kasernenartige Großunterkunft an der Forcella Piccola zwischen Sorapis und Antelao. Übergang von San Vito di Cadore nach Calalzo di Cadore sowie über die Forcella del Ghiacciaio zum Rifugio Antelao. Hauptausgangspunkt für den Antelao.Bewirtschaftet von Mitte Juni bis Mitte September. 100 Betten, 98 Lager, Winterraum. Tel. +39 0436 9685
Rifugio Antelao (1796 m), CAI-Sektion Treviso. Etwas enge, aber gut geführte und gemütliche Hütte in herrlicher Lage, 1000 Meter über dem Cadore, mit Blick auf Antelao, Marmarole und Karnische Alpen. Einziger Stützpunkt im südöstlichen Antelao-Gebiet, daher Haupttourenausgangspunkt für die Cadore-Seite des Antelao. Bewirtschaftet von Anfang Juni bis Ende Oktober. 26 Betten, 25 Lager. Tel. +39 0435 75333


Rifugio Antelao

Bergführer
Gruppo Guide Alpine Cortina, Corso Italia 69/a (Ciasa de ra Regoles), 32043 Cortina d’Ampezzo, Tel. und Fax +39 0436 868505, www.guidecortina.com

Literatur, Karten
Richard Goedeke: 3000er in den Alpen – Die Normalwege. Südliche Alpen mit Dolomiten. Bruckmann, 2004, ISBN-10: 3765436615
Edwin Schmitt, Wolfgang Pusch: Hochtouren Ostalpen – 100 Fels- und Eistouren zwischen Bernina und Tauern. Rother Selection, 2005, ISBN-10: 3763330100
Wanderkarte: Tabacco 1:50.000. Blatt 1: Cadore – Cortina – Dolomiti di Sesto / Sextener Dolomiten

Tourenübersicht: Antelao

Bilder der Tour auf flickr

Antelao

Veröffentlichung

Der Artikel ist im Magazin ‚ALPIN‘, Ausgabe 01/2009, erschienen.

(zurück zum Beginn der Seite)

1 Kommentare

  1. Durch den Adventkalender sind wieder herrliche Erinnerungen wach geworden. Danke lieber Marco!

    Antwort von Marco:
    Darüber freue ich mich sehr!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert